Leseprobe 1

Leseprobe 1

Ernst ging selbstverständlich artig zum Friseur – und ließ sich die Haarspitzen um zwei Millimeter kürzen, vielleicht auch nur um einen. Widerstand ist alles! Ernst liebte diese Konfron­tationen geradezu, mit Lehrern, Eltern und überhaupt allen, die älter als dreißig waren. Und er war im Argumentieren fast genauso gut wie im Provozieren, der Klassenvorstand war jedenfalls kein ernsthafter Gegner für ihn. Man brauchte das Gespräch nur irgendwie auf die Zeit vor 1945 zu bringen. »Und was haben Sie im Krieg so gemacht, Herr Professor?« Dann war gewöhnlich ganz schnell Schluss mit jeder Diskussion. »Jetzt aber weiter im Stoff!«

Die Siebziger brachten dann wie jedes neue Jahrzehnt so manche Veränderungen, nur in der Frisurenfrage blieben die Fronten verhärtet. Lange Haare standen immer noch für Nichtanpassung, Protest und Subversion. Ernsts Mähne war inzwischen auf eine stattliche Länge angewachsen. Marions Haare waren kürzer als seine.

Marion Lehner war etwa so alt wie Ernst und besuchte ein katholisches Gymnasium. Sie lebte mit ihrer Mutter zusammen in einem kleinen Haus in Döbling, ihr Vater war kurz vor ihrer Geburt bei einem Unfall ums Leben gekommen.

Ernst und Marion hatten sich bei einem Sit-in vor der ameri­kanischen Botschaft kennengelernt.

Und weil sie vom ersten Sehen an einander mehr als nur gut leiden konnten, weil beide sehr links und sehr an Politik interessiert waren und weil es einfach genau die richtige Zeit dafür war, verbrachten sie bald einen Großteil ihrer Freizeit miteinander.

Wenn nicht gerade eine Demonstration, ein Teach-in oder eine Flugblattaktion auf dem Programm stand, saßen sie gern bei Marion (die den besseren Plattenspieler hatte) zu Hause in ihrem Zimmer und hörten mit voller Lautstärke zerkratzte Singles oder Langspielplatten, hauptsächlich Led Zeppelin, die Stones, Pink Floyd, Joan Baez und Pete Seeger. Die Wohnung hatte überdies noch den Vorteil, dass Marions Mutter wegen ihrer Reisetätigkeit beim diözesanen Pilgerdienst nur selten daheim war. Marion vermied tunlichst ein Zusammentreffen zwischen Ernst und ihrer Mutter, was jenem nicht wirklich ungelegen kam.

Ach ja, und gelegentlich waren natürlich auch Hausaufgaben zu machen oder Prüfungen vorzubereiten. Aber derlei ließ sich ja locker nebenbei erledigen. Und außerdem: Wer sollte sich auf Lateinvokabeln oder Logarithmen konzentrieren, wenn draußen schon im nächsten Augenblick die ganz große Revolution losbrechen konnte?

In Ernsts Gymnasium freilich schien es, als würde es schon noch etwas länger dauern. Während von anderen Schulen immer wieder zu hören war, dass sich dort die Schüler orga­nisierten und Auseinandersetzungen mit Direktion und Lehrern nicht scheuten, sah es in dieser Hinsicht in Ernsts Schule eher traurig aus. Praktisch immer, wenn er selbst eine Idee hatte und eine Aktion auf die Beine stellen wollte, bekam er kaum eine Handvoll Leute zusammen. »Du, ich hab da grad Training«, »Ich steh in Griechisch auf 4E und kann mir so was nicht leisten«, »Leider hat meine Freundin an dem Tag ihre Geburtstagsparty«.

Es kam nicht ein Mal vor, dass sich am angegebenen Treff­punkt nur Ernst und Paul einfanden. Die beiden kannten sich seit Volksschultagen, gingen auch jetzt in dieselbe Klasse und waren noch immer dicke Freunde. Ja, auf Paul konnte sich Ernst jederzeit verlassen. Aber das half, wenn sie wieder einmal zu zweit allein dastanden, auch nichts: Zwei sind nun einmal nicht das, was man als revolutionäre Massen bezeichnen könnte! Meistens gingen Paul und Ernst, wenn sie das Geld dazu hatten, dann einfach auf ein Bier.

Auch was den Bereich der Schülerorganisationen anbelangte, war die Lage an Ernsts Gymnasium recht dürftig. Im Grunde konnte man nur zwischen dem Verband Sozialistischer Mittel­schüler und der Katholischen Studierenden Jugend wählen.

Für Letztere hatte sich Ernst nie besonders interessiert, auch wenn sich die KSJ, für eine christliche Jugendorganisation jedenfalls, gelegentlich ganz schön aufmüpfig gab. Die Befreiungstheologie war eines ihrer bevorzugten Themen, man hielt unzählige Teach-ins über den frühchristlichen Urkommunismus ab, und einmal wurde sogar eine Jazzmesse mit anschließender Lichter­prozession gestaltet, um für den Frieden in Vietnam zu beten.

Aber das alles war eben nicht so ganz Ernsts Sache. Schon in der siebenten Klasse meldete er sich vom Religionsunterricht ab und schloss sich den VSM-Leuten an. Das kleine rote Schüler­buch, das von ihnen an den Schulen verteilt wurde, hatte schon etwas für sich (schon allein deshalb, weil es die Lehrer hassten). Übermäßig erfolgreich war die VSM-Mannschaft freilich auch nicht, von der Lehrerseite blies ihr ein scharfer Wind entgegen. »Wenn es in Moskau gar so schön ist, warum geht ihr dann nicht selber hin?« Unter den Schülern galten sie als mutig und gut informiert. Man holte sich gelegentlich gern Unterstützung oder eine Auskunft von ihnen, aber dennoch erreichte ihre Anzahl nie den zweistelligen Bereich. Trotzdem: Ernst war aus Über­zeugung dabei.

Allerdings kam er bei Veranstaltungen der Mutterpartei, die er gelegentlich nolens volens besuchte, bald zu der ernüch­ternden Erkenntnis, dass die älteren Genossen in ihrer Mehrzahl auch nicht anders waren als der Rest ihrer Generation. »Sollen sich die Jungen nur austoben. In ein, zwei Jahren ist das vorüber, dann lassen sie sich hoffentlich die Haare schneiden, kaufen sich einen Anzug und werden prima Funktionäre. Engagiert sind sie ja.«

Aber die Gymnasialzeit war ohnehin im Auslaufen. Marion und Ernst legten ihre Reifeprüfungen ab, und das ohne größere Probleme. Marion etwas früher, sie fuhr gleich danach mit ihrer Klasse auf Maturareise nach Rom, wie es am Ursulinen-Gymna­sium Tradition war.

Um ein Haar wäre sie fast schon bei der Hinfahrt wieder nach Hause geschickt worden, weil sie im Bus Bandiera rossa an­gestimmt hatte (und die anderen Mädchen sofort lauthals mitgesungen hatten). Aber zum Glück ließ sich Schwester Floriberta nach längeren Diskussionen überzeugen, dass dieser marxistische Singsang aus dem Büchlein Lieder der Völker stammte, das ihnen der Religionsprofessor ausdrücklich ans Herz gelegt hatte.

Ernst hatte es irgendwie geschafft, sich in der achten Klasse zum Klassensprecher wählen zu lassen, was damals (aus Gründen der Zeitersparnis, wie der Direktor immer wieder erklärte) automatisch auch die Funktion des Schulsprechers mit beinhaltete. Die Schülermitbestimmung steckte noch in den Kinderschuhen, und eigentlich wurde davon ausgegangen, dass ein Schulsprecher vor allem die banalen Wünsche derer, die er vertrat, einmal im Monat an die Direktion weiterleitete. Anbringung eines neuen Kruzifixes in der Klasse 3B, mehr Toilettenpapier für den ersten Stock, Anwärmen der Schulmilch in den Wintermonaten.

Ernst hatte diese entwürdigende Tätigkeit nur sehr am Rande, wenn überhaupt wahrgenommen. Doch nun kam eine Aufgabe auf ihn zu, an der ihm wirklich lag. Und wie! Traditionellerweise musste der Schulsprecher bei der großen Maturafeier im Festsaal mit Eltern, Lehrern und Honoratioren im Namen der nun scheidenden Schüler eine Rede halten.

Damit war der Skandal gewissermaßen schon vorprogram­miert, und er fand natürlich auch statt. Die Rede enthielt nämlich weder den erwarteten Dank an die Lehrkräfte noch das übliche Lob für die trotz gelegentlicher Härten im Grunde doch ganz wunderbaren Schuljahre. Stattdessen fielen Worte wie Generation der Naziväter, faschistoides Schulsystem, veraltete Unterrichtsmethoden und natürlich Lakaien des US-Imperia­lismus. Am Schluss wollte Ernst dann noch als Höhepunkt die Faust hochstrecken und »Hasta la victoria siempre!« rufen. Dazu kam es aber nicht mehr, der Direktor schaltete das Mikrofon ab und verwies Ernst zuerst des Rednerpults und dann sämtlicher Räumlichkeiten der Schule. »Für immer und allezeit, jawoll!«

Ernst Blaha fand das super, irgendwie war das ja auch schon Revolution, zwar nur ein bisschen, aber immerhin.

Als Marion bald darauf mit Sonnenbrand, einem Aschen­becher und einem Waschlappen aus dem Hotel und vielen Gruppenfotos aus Rom zurückkehrte und er ihr begeistert von seiner Aktion erzählte, meinte sie halb sarkastisch, halb an­erkennend: »Na, dann sollte ich ab jetzt wohl Commandante zu dir sagen oder schlicht und einfach Ernesto.«

Letzteres gefiel Ernst so gut, dass er, Sarkasmus hin, Sarkas­mus her, davon nicht mehr abzubringen war. Er beschloss, sich in aller Zukunft nur noch Ernesto zu nennen und nennen zu lassen. Ernesto Che Guevara, Ernesto Blaha, Ernesto!