Leseprobe 2

Leseprobe 2

Auf der Stiege acht waren die meisten Vorhänge zugezogen, man konnte aber sehen, dass dahinter Licht brannte. Nur Frau Stummvoll hatte ein Fenster geöffnet und schaute hinaus. Immer wieder drehte sie den Kopf nach oben, um ihn gleich danach missbilligend zu schütteln. Offenbar stieß sie sich an der grell in allen Farben blinkenden Weihnachtsdekoration auf dem Balkon der Gültekins. Ernesto versuchte, Frau Stummvoll nach Möglichkeit zu übersehen. Ihm war so gar nicht danach, ihre über sieben Stockwerke heruntergekreischten Kommentare an­zuhören.

Nur noch ein paar Schritte bis zum Eingang. Da schlug plötz­lich etwas Schweres neben Ernesto auf dem Asphalt auf, nur sechs, sieben Meter entfernt. Er fuhr zusammen. »Verrückt geworden oder was? Um ein Haar hättet ihr mich getroffen«, brüllte er. Verdammt noch einmal, am Heiligen Abend alte Teppiche oder so einfach beim Fenster herunter zu entsorgen! Das musste nun wirklich nicht sein.

Ernesto sah nach oben, um den oder die Übeltäter noch auf frischer Tat zu ertappen. Frau Stummvoll stand nach wie vor am Fenster, in der Petry-Wohnung war nun auch ein Fenster hell erleuchtet und weit geöffnet. Sonst war nichts Auffälliges zu erkennen oder zu hören – jedenfalls, bis Frau Stummvoll zu schreien anfing.

»Jessasmarandjosef«, schrie sie, und ihre Stimme überschlug sich geradezu, »der Petry!«

Sie schrie auch danach noch weiter, aber Ernesto hörte nicht mehr zu. Er lief die paar Schritte hin zu dem, was er kurz zuvor noch für einen Teppich gehalten hatte. Aber es war kein Tep­pich, da lag Peter Petry, gar kein Zweifel! Auch wenn es schon eine Zeit lang her war, dass Ernesto ihn zum letzten Mal gesehen hatte, erkannte er ihn sofort. In einer roten Lache lag er da auf dem Asphalt, mit unnatürlich verdrehtem Kopf, die Augen weit aufgerissen.

Man musste kein Arzt sein, um zu sehen, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Trotzdem rief Ernesto den Notarzt an. Das dauerte keine zwei Minuten, doch offenbar lange genug, dass sich bereits mehrere Schaulustige versammelt hatten, als Ernesto das Handy wieder in der Jackentasche verstaute. Alle redeten durch­einander. Entsetzen, Mitleid, Unverständnis, Mutmaßungen, Ratlosigkeit. Es wurde immer lauter.

Einige Fenster waren aufgegangen, die Balkone füllten sich, die Leute wollten sehen, was der Grund für diesen Lärm am Heiligen Abend war. Aus einer der Wohnungen war eine fremdsprachige Version von »Stille Nacht« zu hören.

Ernesto hatte genug, und mehr als das, er ergriff die Flucht. Hinein ins Haus, vor dem Lift ebenfalls Leute, aufgeregt dis­kutierend, also die Stiege hoch, immer zwei Stufen auf einmal. Vom Erdgeschoß herauf war Professor Negrin beim Verlassen des Lifts zu hören. »Ein friedvolles und gesegnetes Fest aller­seits.« Was er darüber hinaus noch von seinem geplanten beschaulichen Winterspaziergang sagte oder sagen wollte, ging im allgemeinen Stimmengewirr unter.

In der Wohnung streifte Ernesto nur schnell die Schuhe ab, ließ die Jacke irgendwo und sich selbst ins Sofa fallen. Seine Kopfschmerzen waren wieder da, wahrscheinlich ohnehin schon länger, aber bei alldem, was geschehen war, hatte er sie gar nicht richtig wahrgenommen. Die Schachtel mit den Tabletten stand noch auf dem Tisch, Ernesto schluckte zwei davon und spülte sie mit einem Rest Cola (vermutlich jedenfalls), der sich noch in einem der Gläser befand, hinunter.