Leseprobe 3

Leseprobe 3

Was Ernesto zu Melissa über den mit ihm befreundeten Gynäkologen gesagt hatte, war zumindest leicht übertrieben gewesen.

Streng genommen hatte er mit Joe zum letzten Mal während der gemeinsamen Uni-Zeit zu tun gehabt – abgesehen von dem einen oder anderen zufälligen Aufeinandertreffen, bei dem sich aber nie mehr als ein kurzes »Hallo« oder »Wir sollten uns unbedingt wieder einmal treffen!« ergeben hatte.

Darum war Ernesto einigermaßen erstaunt, als er Joe anrief und der sich sofort an ihn erinnerte. Auch einen baldigen Termin für Melissa erhielt er ohne langes Herumgerede. »Aber du musst mir die Kleine schon persönlich vorbeibringen. Ich würde dich nämlich gern wieder einmal sehen, du alter Schlawiner.« Irgend­wie fand es Ernesto irritierend, dass ihm Joe offensichtlich weder die »Schülerin« noch »Tochter von Bekannten« abnahm und in seinem Tonfall ungeniert anklingen ließ, dass er, hehe, etwas ganz anderes vermutete. Doch andererseits war es natürlich auch irgendwie schmeichelhaft, dass jemand überhaupt auf die Idee kommen konnte, er, Ernesto, würde …

Als Melissa und er dann aber in der Ordination eintrafen, machte alles einen durchaus seriösen Eindruck. Für Ernestos Geschmack vielleicht sogar etwas zu seriös. Erster Bezirk, Alt­bau, Pseudo-Rokokostil, hohe weiße Flügeltüren. Und die mittelalterliche Dame mit Burberrytuch, die am Empfang saß, verstrahlte ebenfalls ein Höchstmaß an Seriosität. Nachdem sie Melissas persönliche Daten aufgenommen hatte, gab sie halblaut zu wissen: »Wenn die Herrschaften ein paar Minuten Platz nehmen möchten, Herr Medizinalrat werden Sie aufrufen.«

Es dauerte auch wirklich nicht lange, bis ein kurzer Summton erklang und die Flügeltür mit der Aufschrift »Ordinationsraum« aufsprang. »Frau Melissa Panzenböck, bitte!«, war Joes Stimme von drinnen zu hören. Melissa verschwand hinter der Tür und schloss sie hinter sich.

Herr Medizinalrat! Ernesto musste schmunzeln. Damals an der Uni war Herr Medizinalrat nämlich ein ausgesprochen wilder Hund gewesen.

Den Kampfnamen Incrediblehatte er sich redlich verdient. Man denke nur etwa an die Plakataktion des Vietnam-Komitees, illegal natürlich. Joe und Ernesto waren von der Polizei überrascht worden und mussten schleunigst das Weite suchen. Aber während die Gesetzeshüter hinter ihnen her waren, blieb als Folge davon das Einsatzfahrzeug eine Zeit lang verwaist zurück – eine Zeit, die dieser incredible Joe eiskalt dazu nutzte, um alle Fenster des grünen Polizei-VWs mit roten Plakaten zuzupflastern. Ho, Ho, Ho Chi Min!

Bei dem Gedanken daran konnte Ernesto ein Lachen nicht ganz so weit unterdrücken, dass es unter der Hörschwelle geblieben wäre, und fing sich dafür einen missbilligenden Seitenblick der Empfangsdame ein. »Wie meinen?«

Ja, wer hätte das damals an der Uni ahnen können, dass ebendieser Joe eines Tages in seinem Vorzimmer eine Dame sitzen haben würde, die ein ganz ähnliches Kunstdeutsch näselte wie die schwarz-distinguierten Demelinerinnen in Wiens berühmtester Kaffee-Konditorei?

Dann ging die Flügeltür wieder auf. Am Gesichtsausdruck Melissas konnte Ernesto sofort die Diagnose ablesen: negativ (was in diesem Fall natürlich einen positiven Ausgang bedeutete). Joe hatte Melissa herausbegleitet und verabschiedete sich von ihr mit Handkuss. »Sie wissen ja, Gnädigste, jederzeit gern …«

Danach kam er zu Ernesto. »Gut schaust du aus, altes Schlachtross, kaum verändert!«

Du dafür umso mehr, dachte Ernesto. Joe hatte seit den Uni-Tagen sichtlich einiges an Gewicht zugelegt, sein schlohweißer Haarkranz hob sich mehr als überdeutlich von der solarium­gebräunten Kopfhaut ab und erinnerte irgendwie an einen Heiligenschein. Ernesto erwiderte die Andeutung einer Um­armung nebst Schulterklopfen und bedankte sich noch einmal für Joes Entgegenkommen. Für längere Gespräche blieb ohnehin keine Zeit, denn die nächste Patientin wartete schon bei der Burberrydame, und diese meinte offenbar, mit einem Räuspern darauf aufmerksam machen zu müssen. »Herr Medizinalrat …«

Joe und Ernesto kamen noch schnell darüber überein, dass sie sich ganz bald ganz bestimmtanrufen würden, weil sie sich ja unbedingt irgendwann wieder einmal auf ein Krügerl oder zwei zusammensetzen wollten.

Schon im Türrahmen stehend, sodass es nur für Ernesto zu sehen war, hielt Joe noch schnell für ihn beide Daumen nach oben und ließ ihn durch sein etwas unverschämtes Mienenspiel wissen, dass er ihm, was seine Begleitung anging, allerhöchste Anerkennung zollte.

Im Stiegenhaus gingen Melissa und Ernesto noch schweigend nebeneinander. Erst, als das schwere Haustor hinter ihnen ins Schloss gefallen war, brach es aus Melissa heraus: Sie fiel Ernesto um den Hals und drückte ihm einen Schmatz auf jede Wange. »Eigentlich müsstest du etwas gehört haben. Mir ist nämlich gerade ein tonnenschwerer Stein von der Seele geplumpst. Aber so was von supermegatonnenschwer.«

Ein etwas kleiner Stein war auch von Ernesto abgefallen, er hätte nämlich nicht die geringste Vorstellung davon gehabt, was er sagen und tun hätte sollen, wenn das Ergebnis der Unter­suchung anders ausgefallen wäre.

Und wie der Zufall so spielt: Von dort, wo sie waren, bis zum Demel waren es nur ein paar Schritte, und weil Ernesto ja erst vorhin mit seinen Gedanken dorthin abgeschweift war, schlug er vor, zur Feier des Tages diesem altehrwürdigen Lokal einen Besuch abzustatten.

Gleich beim Hineingehen erkundigte er sich, ob es noch immer den Rauchsalon gebe, und erhielt auch prompt die ge­wünschte Auskunft. »Im Obergeschoß können rauchen.« Melissa brauchte ein Weile für ihre Bestellung, ehe sie sich für ein Stück Pistazientorte entschied, Ernesto wählte, ohne lange nach­zudenken, was er immer bei solchen Gelegenheiten wählte: Sacher mit Schlag.

Als sich Melissa später zurückzog, um sich frisch zu machen, überlegte Ernesto etwas übermütig, ob er es schaffen würde, die Schlagobersreste vom Teller abzuschlecken, ohne dabei von jemandem gesehen zu werden. Aber er konnte seine Über­legungen nicht zu Ende bringen, denn plötzlich legte ihm jemand von hinten die Hand auf die Schulter. Und dieser Jemand war niemand anderer als Theo!

»Alle Achtung, Compañero«, sagte er, »wie du das heute alles so hingekriegt hast. Echt souverän. Aber vielleicht solltest du einmal daran denken, auch selber zum Arzt zu gehen. Na?« Theo zog verschmitzt die Augenbrauen hoch, sodass sich Ernesto wieder einmal wie schon so oft zuvor die Frage stellen musste: Ernst oder Scherz? Doch Theo schien ohnehin keine Antwort zu erwarten, denn so schnell, wie er gekommen war, machte er sich auch schon wieder zum Gehen bereit. »Sehr bürgerliches Lokal übrigens«, flüsterte er Ernesto noch zu, winkte kurz und verschwand hinter dem Nachbartisch, der mit japanischen Touristen dreifach überbesetzt war.

Ernesto fand keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn Melissa kam zurück. »Noch ein Espresso zum Abschluss?«, fragte er sie.